Roman Hocke studierte deutsche und italienische Literatur in Zürich, Rom und München. Ab 1981 war er 17 Jahre beim Stuttgarter Weitbrecht Verlag tätig, zunächst als Lektor, dann als Verlagsleiter und Geschäftsführer. Roman Hocke war eng mit Michael Ende befreundet und arbeitete fast zwei Jahrzehnte als Lektor mit ihm zusammen. Seit Michael Endes Tod betreut er als Herausgeber dessen literarischen Nachlass. An den beiden Realverfilmungen von „Jim Knopf“ wirkte Roman Hocke als Creative Producer mit. Darüber hinaus vertritt Roman Hocke seit 1997 als selbständiger Literaturagent Autoren, wobei er sich auf Michael Endes Lebensmaximen aus Neugier, Fantasie, Poesie und Offenheit stützt. Seine Agentur, die AVA international, hat ihren Sitz in München und vertritt unter anderem folgende Autoren: Sabine Ebert, Andreas Englisch, Sebastian Fitzek, Wolfram Fleischhauer, Andreas Gruber, Markus Heitz, Charlotte Roth, Ursula Poznanski, Peter Prange, Michael Tsokos.
1. Sie haben Michael Ende persönlich gekannt. Wie haben Sie sich kennen gelernt? An welche besonderen Momente mit ihm erinnern Sie sich?
Ich war gerade 16 geworden, als Michael Ende und Ingeborg Hoffmann ihr Haus in Genzano di Roma kauften und damit zu unseren Nachbarn wurden. Für mich war er zunächst ein Freund meiner Eltern – interessant, faszinierend, aber ein gutes Stück von mir entfernt. Eine eigene Beziehung zu ihm habe ich erst als Student aufgebaut. Ich studierte Germanistik, Italianistik und moderne Linguistik und hatte die Aufgabe übernommen, die Theorien verschiedener Professoren anhand von Romanbeispielen entweder zu verifizieren oder zu falsifizieren. Den Reaktionen zufolge hatte ich es darin zu einiger Meisterschaft gebracht. Michael Ende allerdings war gar nicht begeistert, ja er war regelrecht erschüttert über mein Literaturverständnis. Kurzerhand erklärte er es zu seiner Pflicht, mein Verhältnis zu Texten „wieder auf die Beine zu stellen“, wie er es nannte. Wie es seine Art war, hielt er mir dazu keine Vorträge, sondern empfahl mir Bücher, von denen er sicher war, dass sie an meiner festgefahrenen Einstellung rütteln würden. An das erste erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Es war der Roman „Zen oder die Kunst ein Motorrad zu warten“ von Robert Pirsig. Ich verschlang das Buch – und fand mich mir nichts dir nichts auf einem neuen Weg wieder, der mein Leben von Grund auf verändern sollte. Dieser Weg, auf den Michael Ende mir half, ist der Grund, warum ich heute Literaturagent bin und nicht Germanistik-Professor. Ich suche nach gut erzählten Geschichten, und statt sie in ihre Einzelteile zu zerlegen, erlaube ich mir mit dem größten Vergnügen, mich von ihnen verzaubern zu lassen.
2. Was denken Sie, wie hätte Michael Ende die heutige Zeit empfunden?
Jede Reise in eine andere Zeit muss für den Reisenden ja zunächst einmal ein Schock sein – umso mehr, wenn die Reise in die Zukunft führt. Michael Ende war dem Neuen gegenüber offen, verlernte nie das Staunen und bewahrte sich lebenslang seine Neugier. Ein bisschen erschrocken wäre im ersten Augenblick aber sicherlich sogar er gewesen. Die technischen Möglichkeiten hätten ihn verblüfft, die Vorteile der Digitalisierung, die wachsende europäische Gemeinschaft, die Fortschritte in der Medizin und die neuen Entwicklungen in Kunst und Literatur ohne Zweifel zutiefst gefreut. Zugleich hätte er aber auch feststellen müssen, dass viele seiner warnenden Vorhersagen inzwischen Wirklichkeit geworden sind. Entsetzt wäre er von der ökologischen Krise, die immer dramatischere Formen annimmt, von neu aufkeimendem Fanatismus, Hass, neuen Kriegen überall auf der Welt und vor dem wieder sich abzeichnenden Siegeszug der Populisten, den er zu Beginn seines Lebens auf die bekannte katastrophale Weise erfahren musste. Es hätte ihn traurig gemacht, zu erkennen, wie schnell die Solidarität in der Massengesellschaft schwindet, aber Michael Ende war nun einmal kein Mensch, der sich auf Traurigkeit ausruhte. Seine sinnliche Lebensfreude, sein Lachen, seine innige Freude an Freundschaft hätte er sich heute so wenig nehmen lassen wie zu seiner eigenen Zeit, und sie hätte ihm Mut und Hoffnung gegeben. Und die Kraft, neue Bücher zu schreiben, durch neue Geschichten Sinn zu vermitteln, Wege aufzutun, die es uns Menschen ermöglichen, uns für eine gute Seite zu entscheiden.
3. Als Nachlassverwalter hüten Sie das Erbe Michael Endes. Verstehen Sie sich auch als Hüter von Michael Endes Botschaften?
Michael Ende war ein Geschichtenerzähler. Die Verbreitung von Botschaften oder gar Heilslehren war ihm fremd. Seine besondere Sicht auf die Welt aber, sein unbewusstes Bestreben, Poesie, Fantasie und Zauber ins Alltagsleben zu verweben und es dadurch mit Inhalt zu füllen, halte ich für zeitlos und zeitgemäß zugleich. Diese Weltsicht ist unbewusst und absichtslos in seine Erzählungen eingeflossen und drängt sich niemandem auf. Umso lieber rufe ich sie in Erinnerung, bei jeder Gelegenheit, die sich mir bietet. Mir haben seine Gedanken sehr geholfen, mich in dieser Welt zurecht zu finden und meinen Platz darin zu finden, auf meine ganz persönliche Weise.
4. Michael Endes Texte sind zeitlos, weil Sie sich mit grundsätzlichen Fragen der Menschheit wie Zeit, das Miteinander und die Bewahrung der Natur beschäftigen. Mit welcher Sinnfrage beschäftigen Sie sich ganz persönlich aktuell?
Drei Themenkomplexe beschäftigen mich in den letzten Jahren zunehmend: Was geschieht mit uns Menschen, was geschieht mit unserer Gesellschaft, wenn sich unser Denken vom Erfassen von Qualität immer mehr abwendet und sich zunehmend an Quantität ausrichtet? Zugleich scheint es mir, dass wir im Begriff stehen, uns von einer Schriftkultur in eine Bildkultur zu verwandeln. Was hat das für Folgen, worauf müssen wir uns vorbereiten und wovor schützen? Und schließlich lautet die entscheidendste Frage in alledem für mich: Wir können wir in einer Massengesellschaft die menschliche Würde sicherstellen, die sich alleine in Freiheit entwickeln kann? Natürlich macht die Beschäftigung mit diesen Fragen, die ja in die Zukunft unserer Kinder weisen, gelegentlich Angst. Von Michael Ende habe ich aber auch gelernt, an Offenheit und Neugier unbeirrt festzuhalten und mir Raum für Zuversicht zu lassen. Eine gewisse Verunsicherung kann ich nicht leugnen – aber in erster Linie bin und bleibe ich gespannt auf allen Zauber, der da kommt.